Die Vereinten Nationen haben 2022 in einer Resolution den 15. März zum “Internationalen Tag zur Bekämpfung von Islamfeindlichkeit” erklärt. Dies geschah mit Blick auf den Anschlag auf zwei Moscheen in Christchurch (Neuseeland), bei dem am 15. März 2019 51 Menschen getötet wurden.
In Deutschland kennen wir bereits seit 2015 den 1. Juli als “Tag gegen antimuslimischen Rassismus”. Initiiert vom „Rat muslimischer Studenten & Akademiker“ (RAMSA) im Jahr 2015 erinnert dieser Tag an den Mord an Marwa El Sherbini am 1. Juli 2009, einen Akt rechter Gewalt aus rassistischen Motiven.
Todesopfer rechter Gewalt hat es in der Bundesrepublik seit den 60er Jahren gegeben. Statistiken gehen von mindestens 274 Todesopfern bis 2020 aus.
Seit den 80er Jahren rückt hierbei das Motiv “Ausländerhass” immer mehr in den Mittelpunkt. Über zwei Drittel der Todesfälle betrifft Menschen, die als Migrant:innen “gelesen” werden, People of Color, Sinti*zza und Rom*nja und Menschen jüdischen Glaubens.
Rund 25% der Todesopfer sind muslimischer Herkunft, werden aber bis 2006 vor allem als “Ausländer” und nicht durch ihren Glauben definiert. Die ersten bekannten Fälle sind Sydi Battal Koparan (31.12.1981 in Ludwigsburg) und Tevfik Gürel (19.6.1982 in Norderstedt), der erste Brandanschlag erfolgte bereits am 26. August 1984 in Duisburg (ums Leben kamen: Döndü Satir, Songül Satir, Ümit Satir, Cigdem Satir, Zeliha Turhan, Rasim Turhan, Tarik Turhan).
Ein außergewöhnlicher Fall ereignete sich am 19. August 1987 in Tübingen, als der Iraner Kiomars Javadi, umringt von 15 bis 30 “Schaulustigen” von Angestellten eines Supermarkts 18 Minuten lang gewürgt wurde – die ärztliche Untersuchung ergab. 33 Jahre vor George Floyd, der auf ähnliche Weise bei einer Festnahme von Polizisten in den USA umkommt, führte dieser Fall jedoch nicht zu einer massenhaften Empörung. Die Täter erhielten lediglich 18 Monate auf Bewährung, da das Gericht ihnen glaubte, dass sie einen Ladendiebstahl verhindern wollten. Der Betreiber des Supermarktes sollen sogar 50 D-Mark “Fangprämie” als Belohnung gezahlt haben.
Es folgen Brandanschläge in Schwandorf (16.12.1988), Kempten (17.11.1990), Mölln (23.11.1992) und Solingen (29.05.1993) und zahlreiche sogenannte “Einzelfälle”.
Die zwischen 2000 und 2006 verübte Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) blieb lange unaufgeklärt und das rassistische Tatmotiv wurde bis 2011 ignoriert.
In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends beginnt der Hass auf Ausländer mehr und mehr in einen Hass auf Muslime umzuschlagen. Vor allem Frauen mit Kopftuch wurden mehr und mehr Opfer von Diskriminierung, Beleidigungen und tätlichen Angriffen. Erstes Todesopfer wurde Marwa El-Sherbini, eine Apothekerin aus Ägypten, ehemalige Handball-Nationalspielerin, Mutter eines kleinen Kindes und im dritten Monat schwanger. Sie war mit Ihrem Mann nach Deutschland gekommen, der als Doktorand am Max-Planck-Institut für Zellbiologie und Genetik arbeitete.
Es traf eine Frau, die durch ihr Kopftuch als Muslimin zu erkennen war und dieaufgrund ihrer Kleidung zur Zielscheibe für Hass wurde.
Was ist geschehen? Als Marwa El-Sherbini am 21.08.2008 nahe ihres Wohnortes in Dresden mit ihrem zweijährigen Sohn auf einen Spielplatz ging, war die Schaukel von Alex W. und seiner Nichte besetzt. Als sie nach einer Wartezeit den Mann höflich fragte, ob ihr Sohn auch schaukeln dürfe, wurde dieser sofort ausfällig. Er beschimpfte sie und nannte sie “Islamistin” und “Terroristin”, die kein Recht habe in Deutschland zu sein. Als er drohte ihren Sohn “tot zu schaukeln” riefen Zeugen die Polizei.
Die Polizei nahm den Vorfall auf und nahm den Mann mit auf die Wache. Er erhielt schließlich einen Strafbefehl in Höhe von 330 € für seine Beleidigungen.
Alex W. ging in Berufung. Er schrieb dem Gericht, er würde eher sterben als eine Strafe zu bezahlen. Es kamt zu einem ersten Verfahren, bei dem er zu einer Strafe von 780 € und den Verfahrenskosten in Höhe von 1.200 € verurteilt wurde.
Da er abermals in Berufung geht, kam es zu einem zweiten Verfahren. Bei beiden Verhandlungen wird er ausfällig und wiederholt seine rassistischen Beleidigungen, man könne ja niemanden beleidigen, der kein Mensch sei, sagt er.
Marwa erscheint vor dem Gericht in Begleitung ihres Mannes und ihres dreijährigen Sohnes. Nach ihrer Aussage möchte sie den Saal verlassen. W. zieht ein 31cm langes Messer aus seinem Rucksack, springt auf, drückt die schwangere Frau gegen die Türe und beginnt auf sie einzustechen. Als Marwas Mann versucht sie zu retten, sticht er auch auf ihn ein.
Herbeieilende Polizisten halten Marwas Mann irrtümlich für den Aggressor und schießen ihm ins Bein.
Marwa stirbt noch im Gerichtssaal, ihr Mann muss mehrfach wiederbelebt werden, überlebt aber schwerverletzt.
Der Vorfall wird in den Medien anfangs kaum zur Kenntnis genommen, das rassistische Motiv zunächst nicht erwähnt, oder relativiert.
Dr. Sabine Schiffer vom Institut für Medienverantwortung stellt die Reaktionen in den Medien ausführlich dar (siehe unten).
Der Fall wirft zahlreiche Fragen auf:
- Wie konnte ein offensichtlich aggressiver Straftäter eine Waffe in den Gerichtssaal bringen?
- Warum waren keine Sicherheitskräfte im Saal anwesend?
- Wie konnte der herbeigeeilte Polizist zu dem Fehlurteil kommen, der Ehemann des Opfers sei der Täter?
- Warum vermieden es Politikerinnen, wie die Oberbürgermeisterin von Dresden oder die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre persönliche Anteilnahme zu zeigen?
- Warum nahm die Presse die Bedeutung des Falls nicht wahr?
Es gibt noch vieles in den ersten Wochen nach der Tat, was nachdenklich stimmen muss. Vor allem die zahlreichen Versuche, sich von der Tat zu distanzieren, wirken verstörend.
Der “Zentralrat der Ex-Muslime” bestreitet ein islamfeindliches Motiv und warnt davor “Islamkritikern einen Maulkorb zu verpassen”. Zahlreiche Medien markieren den Täter als “Russlanddeutschen” und versuchen so, von einer Verantwortung der Deutschen Gesellschaft abzulenken. Westdeutsche versuchen den Tatort im “Osten” zu nutzen, um sich von der Tat distanzieren zu können. Die Kritik aus Staaten wie dem Iran und Ägypten wird als islamistische Instrumentalisierung des Mordes gebrandmarkt. Der Täter gilt sogar als potenzielles Opfer.
Der Prozess gegen Alex W. findet schließlich unter höchsten Sicherheitsmaßnahmen statt. Das komplette Gericht wird an diesem Tag abgesperrt, 200 Polizisten werden eingesetzt, der Täter, der in einem gepanzerten Fahrzeug zum Gericht gebracht wird, wird im Gerichtssaal durch Panzerglas geschützt.
Die Verteidigung versucht, eine verminderte Schuldfähigkeit und eine psychische Erkrankung des Täters nachzuweisen.
Das Gericht folgt diesen Argumenten nicht. Es stellt fest, dass alle “Mordmerkmale” gegeben sind. Die niedrigen Beweggründe, die Planung der Tat und die kaltblütige Ausführung führen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Außerdem stellt das Gericht eine besondere Schwere der Tat fest, was eine vorzeitige Haftentlassung ausschließt.
Marwa El-Sherbini war das erste Opfer, blieb aber nicht die Einzige. Die Morde von München (22.07.2016) und Hanau (19.02.2020) mit jeweils 9 Todesopfern sind nur die prominentesten Fälle.
Antimuslimischer Rassismus trifft vor allem Frauen. 75% der Straftaten gegen Muslime treffen Frauen, die als muslimisch “gelesen” werden, meist wegen ihres Kopftuchs. Im Jahr 2020 wurden 1.129 Fälle offiziell erfasst. Da es hierbei immer noch eine große Dunkelziffer von nicht gemeldeten Fällen gibt, wurde 2021 eine zentrale Meldestelle für islamfeindlichen Rassismus eingerichtet: https://www.i-report.eu/
Das Gedenken an Marwa El-Sherbini hilft uns, auch in der Gegenwart sensibler und aufmerksamer auf menschenverachtende Vorgänge zu reagieren.
Marwa El Sherbini selbst wird als Akademikerin und mutige Frau mehr und mehr gewürdigt.
Seit 2012 würdigen der Freistaat Sachsen und die Stadt Dresden Marwa mit der Einrichtung eines “Marwa El Sherbini Stipendiums”.
Der seit 2015 eingerichtete “Tag gegen Antimuslimischen Rassismus” am 1. Juli findet immer mehr Anerkennung, auch bei staatlichen Einrichtungen. Der Tag wird seit 2018 von CLAIM (www.claim-allianz.de) koordiniert und mit staatlichen Mitteln gefördert.
2022 schließlich wurde eine vorher namenlose Grünfläche vor dem Landgericht Dresden in Marwa El-Sherbini-Platz umbenannt.
Kurze Videos zum Thema:
Der Mord an Marwa El-Sherbini – Motiv: Islamhass
Ich bin MARWA! | Creators for Change
Ein hörenswerter Podcast zum Mord an Marwa El Sherbini
https://open.spotify.com/episode/1AIEDbtxnA2DeXnF5Weyhw
Zum Weiterlesen:
Thomas Billstein, Kein Vergessen – Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945. Münster 2020
Antimuslimische Gewalt gegen Frauen: Der Mord an Marwa El-Sherbini, Dokumentation auf: https://gegenuns.de/marwa-el-sherbini/
Die Stadt Dresden zum Gedenktag 2022:
https://www.dresden.de/de/rathaus/politik/demokratie-respekt/marwa-el-sherbini.php
Zum Medienecho auf den Mord
https://www.medienverantwortung.de/wp-content/uploads/2009/12/20091215_Medien-MordAnMarwa.pdf
Bildnachweis:
Gedenkfeier für Maria el Sherbini vor dem Dresdener Landgericht. Public domain by wiki commons
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Marwa_el-Sherbini.funereal_meeting_of_dresden-_germany.jpg