“I can’t breathe” – “Ich kriege keine Luft” war der Hilferuf von George Floyd, der bei einem Polizeieinsatz am 25.05.2020 in Amerika zu Tode gewürgt wurde.
Die Videoaufnahmen von Floyds Tod gingen durch die sozialen Medien und lösten eine Protestbewegung aus, die als “Black Lives Matter” weltweit das Thema Rassismus ins Bewusstsein hoben und wichtige Umdenkungsprozesse in Gang setzte.
Ohne Video und Bildaufnahmen wäre es vermutlich nicht gelungen, diesen Fall in den Blick der Öffentlichkeit zu bringen. Ähnliche Fälle kamen entweder gar nicht an die Öffentlichkeit, oder wurden schnell vergessen.
Wir wollen daher die Geschichte von Kiomars Javadi erzählen, der 33 vor George Floyd geschah – nicht im fernen Amerika, sondern im Herzen Tübingens.
Kiomars Javadi war vor dem Militärdienst im Iran-Irak Krieg nach Deutschland geflohen und lebte in einer Asylunterkunft mit seiner Frau.
Am 19.08.1987 betrat er den Supermarkt “Pfannkuch” nahe der Neckarbrücke in Tübingen. Er war leicht angetrunken (in seinem Blut fand man über 1 Promille Alkohol) und etwas desorientiert. Er nimmt einen Einkaufswagen und legt Waren im Wert von 54,40 DM hinein – unter anderem 3 Rinderrouladen. Er schiebt den Wagen zum Hinterausgang, als er in den Hinterhof kommt dreht er jedoch um und geht zurück in den Laden. Eine Mitarbeiterin bemerkt dies und meldet den Vorgang dem Filialleiter. Sie geht von einem Diebstahlversuch aus.
Kiomars ändert seine Meinung, lässt den Einkaufswagen stehen und nimmt stattdessen zwei Dosen Bier und geht an die Kasse, um diese zu bezahlen. Dort wird er vom Filialleiter und anderen Angestellten aufgehalten. Man wirft ihm vor, stehlen zu wollen. Der Metzger besteht auf die Bezahlung der Rinderrouladen, die er nicht mehr zurücknehmen könne.
Es entsteht ein Wortwechsel. Kiomars bestreitet stehlen zu wollen und möchte das Bier bezahlen. Die Angestellten, vor allem der Auszubildende des Supermarktes ergreifen ihn und bringen ihn in ein Hinterzimmer. Der Filialleiter verständigt die Polizei.
Im Hinterzimmer “kümmert” sich der Auszubildende um Kiomars. Der Auszubildende hatte in den vergangenen Wochen bereits einige Ladendiebe “geschnappt” und für jeden Fall 50 DM “Fangprämie” erhalten. Da es dabei auch schon zu körperlichen Auseinandersetzungen gekommen war hatte er sich mit einem Gummiknüppel bewaffnet, der wohl auch in diesem Fall zum Einsatz kam. Kiomars gerät in Panik.
Als der Filialleiter in das Hinterzimmer kommt und die Tür öffnet, ergreift Kiomars die Gelegenheit zur Flucht. Es gelingt ihm in den Hinterhof zu rennen aber kurz bevor er die Straße erreicht, stürzt sich der Auszubildende auf ihn und reißt ihn zu Boden. Kiomars liegt mit den Gesicht nach unten auf der Straße, der Auszubildende auf seinem Rücken. Der Auszubildende nimmt Kiomars in den Würgegriff, der Filialleiter ergreift die Beine und wendet einen schmerzhaften Griff, den er aus seinem Judo-Kurs kennt, an. Er wundert sich warum Kiomars nicht schreit. Dieser bekommt aber keine Luft mehr.
Rund 15-30 Passanten bleiben stehen und beobachten, wie die zwei Männer mit Kiomars umgehen. Einige sollen sogar gerufen haben “Ihr bringt den ja um”. Der Auszubildende schreit zurück und droht die Passanten zu verprügeln, wenn sie eingreifen. Keiner der Passanten greift ein.
Nach 4 Minuten Würgegriff wird Kiomars ohnmächtig. Spätestens nach 6 Minuten ohne Luft stirbt er. Der Auszubildende hält den Toten jedoch weitere 12 Minuten im Würgegriff. Der Filialleiter hält nach wie vor das verdrehte Bein des Opfers.
Insgesamt 18 Minuten wird Kiomars gewürgt, 18 Minuten, in denen die Täter nicht nachlassen und nicht merken, dass sie ihn bereits getötet haben, 18 Minuten, in denen keiner der Passanten ein greift.
Nach 18 Minuten kommt die Polizei, legt dem Opfer noch Handschellen an und merkt erst als sie ihn auf den Rücken drehen, dass er bereits tot ist.
Der Fall kommt vor Gericht, wird aber lediglich als Vereitelung eines Diebstahlversuchs behandelt. Die beiden Täter erhalten wegen fahrlässiger Tötung eine Bewährungsstrafe von 18 Monaten.
Ein rassistischer Hintergrund der Tat wird nicht verhandelt. Im Gegenteil, als die Ehefrau des Opfers in der Gerichtsverhandlung schluchzend zusammenbricht, fährt der Richter sie an, mit den Worten: “Wir sind hier nicht auf einem orientalischen Bazaar”. Die Verteidiger mahnen während der Verhandlung “mitteleuropäische Umgangsformen” an. Im Gerichturteil findet sich ein Hinweis, dass die Täter eine durch das Würgen verursachte Verfärbung des Gesichtes nicht hätten erkennen können, da Kiomars eine dunklere Hautfarbe gehabt habe.
Nach dem Tod von Kiomars gründet sich in Tübingen ein “Aktionskomitee gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit”. Zu einer Demonstration kommen über 2.000 Menschen. Lesebriefe im “Schwäbischen Tagblatt” beklagen die “steinzeitliche Lynchjustiz”. In der “Taz” wird geschrieben, dass ein Diebstahlversuch wohl nicht zum Tod geführt hätte, wäre Kiomars “nicht Ausländer gewesen”.
1991 produziert der mit Kiomars befreundete Filmmacher Rahim Shirmahd den Dokumentarfilm “18 Minuten Zivilcourage” im Gedenken an den Fall.
Trotz dieser kurzen Aufmerksamkeit gerät der Fall jedoch relativ schnell in Vergessenheit. Nur wenige Aktivisten versuchen das Gedenken aufrecht zu erhalten. 2021 bringt eine private Initiative eine Gedenktafel am Tatort an, die aber nach wenigen Tagen entfernt wird.
Erst mehr als 35 Jahre nach der Tat, motiviert durch die Black Lives Matter Bewegung, gerät der Fall von Kiomars wieder stärker in das Bewusstsein der Tübinger und ein Arbeitskreis der Stadt wird eingerichtet, der sich mit dem Gedenken an Kiomars beschäftigen soll.
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Das Titelbild zeigt das Tübinger Epplehaus, dass zum 30. Jahrestag des Vorfalls an die Tat erinnerte.