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1987 – I can’t breathe 

„I can’t breathe” – “Ich kriege keine Luft” war der Hilferuf von George Floyd, der bei einem Polizeieinsatz am 25. Mai 2020 in Minnesota/USA zu Tode gewürgt wurde. 

Die Videoaufnahmen von Floyds Tod gingen durch die sozialen Medien und lösten eine Protestbewegung aus, die als „Black Lives Matter” weltweit das Thema Rassismus ins Bewusstsein hob und wichtige Umdenkungsprozesse in Gang setzte. 

Ohne Video und Bildaufnahmen wäre es vermutlich nicht gelungen, diesen Fall in den Blick der Öffentlichkeit zu bringen. Ähnliche Fälle kamen entweder gar nicht an die Öffentlichkeit, oder wurden schnell vergessen. 

Wir wollen daher die Geschichte von Kiomars Javadi erzählen, der 33 Jahre vor George Floyd geschah – nicht im fernen Amerika, sondern im Herzen Tübingens. 

Kiomars Javadi (eigentlich Kiumars Baba Abdollah) war vor dem Militärdienst im Iran-Irak Krieg nach Deutschland geflohen und lebte in einer Asylunterkunft mit seiner Frau. 

Moment mal!
Kiomars kommt zu einer Zeit nach Deutschland in der Rechte Gewalt erste Todesopfer unter Menschen mit Migrationshintergrund fordert, seien es Asylanten oder vermeintliche “Gastarbeiter”. Motiv war damals noch nicht Hass auf eine andere Religion, sondern Hass auf Fremde, betroffen waren aber auch zunehmend Menschen muslimischer Herkunft. 
Die Morde der 1980er Jahre wurden meist als bedauerliche Einzelfälle oder Taten psychisch kranker eingeordnet. Ein Bewusstsein für zunehmend gewaltbereiten Rassismus war kaum vorhanden. In der ersten Hälfte der 80er Jahre erinnern wir uns beispielsweise an: Seydi Battal Koparan (1981), Tevfik Gürel (1982), Mohamed Ehab (1982), Mehmet Kaymakçı (1985), Ramazan Avcı (1985) und an den ersten Brandanschlag auf ein “mehrheitlich von Türken bewohntes Haus” 1984 in Duisburg (7 Todesopfer).
Der Fall von Kiomars ist daher nur ein Beispiel, bei dem ein rassistischer Hintergrund der Tat nicht Teil der Strafverfolgung war. 

Am 19. August 1987 betrat er den Supermarkt „Pfannkuch” nahe der Neckarbrücke in Tübingen. Er war leicht angetrunken (in seinem Blut fand man über 1 Promille Alkohol) und etwas desorientiert. Er nimmt einen Einkaufswagen und legt Waren im Wert von 54,40 D-Mark hinein. Unter anderem drei Fleischrouladen. Er schiebt den Wagen zum Hinterausgang, als er in den Hinterhof kommt, dreht er jedoch um und geht zurück in den Laden. Eine Mitarbeiterin bemerkt dies und meldet den Vorgang dem Filialleiter. Sie geht von einem Diebstahlversuch aus.  

Kiomars ändert seine Meinung, lässt den Einkaufswagen stehen und nimmt stattdessen zwei Dosen Bier und geht an die Kasse, um diese zu bezahlen. Dort wird er vom Filialleiter und anderen Angestellten aufgehalten. Man wirft ihm vor, stehlen zu wollen. Der Metzger besteht auf die Bezahlung der Rindsrouladen, die er nicht mehr zurücknehmen könne.  

Es entsteht ein Wortwechsel. Kiomars bestreitet stehlen zu wollen und möchte das Bier bezahlen. Die Angestellten, vor allem der Auszubildende des Supermarktes ergreifen ihn und bringen ihn in ein Hinterzimmer. Der Filialleiter verständigt die Polizei. 

Im Hinterzimmer „kümmert” sich der Auszubildende um Kiomars. Der Auszubildende hatte in den vergangenen Wochen bereits einige Ladendiebe „geschnappt” und für jeden Fall 50 D-Mark „Fangprämie” erhalten. Da es dabei auch schon zu körperlichen Auseinandersetzungen gekommen war, hatte er sich mit einem Gummiknüppel bewaffnet, der wohl auch in diesem Fall zum Einsatz kam. Kiomars gerät in Panik.   

Als der Filialleiter in das Hinterzimmer kommt und die Tür öffnet, ergreift Kiomars die Gelegenheit zur Flucht. Es gelingt ihm, in den Hinterhof zu rennen aber kurz bevor er die Straße erreicht, stürzt sich der Auszubildende auf ihn und reißt ihn zu Boden. Kiomars liegt mit den Gesicht nach unten auf der Straße, der Auszubildende auf seinem Rücken. Der Auszubildende nimmt Kiomars in den Würgegriff, der Filialleiter ergreift die Beine und wendet einen schmerzhaften Griff, den er aus seinem Judo-Kurs kennt, an. Er wundert sich, warum Kiomars nicht schreit. Dieser bekommt aber keine Luft mehr. 

Rund 15-30 Passant:innen bleiben stehen und beobachten, wie die zwei Männer mit Kiomars umgehen. Einige sollen sogar gerufen haben „Ihr bringt den ja um”. Der Auszubildende schreit zurück und droht die Passant:innen zu verprügeln, wenn sie eingreifen. Keiner der Passant:innen greift ein. 

Nach vier Minuten Würgegriff wird Kiomars ohnmächtig. Spätestens nach sechs Minuten ohne Luft stirbt er. Der Auszubildende hält den Toten jedoch weitere zwölf Minuten im Würgegriff. Der Filialleiter hält nach wie vor das verdrehte Bein des Opfers. 

Insgesamt 18 Minuten wird Kiomars gewürgt, 18 Minuten, in denen die Täter nicht nachlassen und nicht merken, dass sie ihn bereits getötet haben, 18 Minuten, in denen keiner der Passant:innen eingreift. 

Nach 18 Minuten kommt die Polizei, legt dem Opfer noch Handschellen an und merkt erst als sie ihn auf den Rücken drehen, dass er bereits tot ist. 

Der Fall kommt vor Gericht, wird aber lediglich als Vereitelung eines Diebstahlversuchs behandelt. Die beiden Täter erhalten wegen fahrlässiger Tötung eine Bewährungsstrafe von 18 Monaten. 

Ein rassistischer Hintergrund der Tat wird nicht verhandelt. Im Gegenteil, als die Ehefrau des Opfers in der Gerichtsverhandlung schluchzend zusammenbricht, fährt der Richter sie an, mit den Worten: „Wir sind hier nicht auf einem orientalischen Bazaar”. Die Verteidiger mahnen während der Verhandlung „mitteleuropäische Umgangsformen” an. Im Gerichturteil findet sich ein Hinweis, dass die Täter eine durch das Würgen verursachte Verfärbung des Gesichtes nicht hätten erkennen können, da Kiomars eine dunklere Hautfarbe gehabt habe. 

Nach dem Tod von Kiomars gründet sich in Tübingen ein „Aktionskomitee gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit”. Zu einer Demonstration kommen über 2.000 Menschen. Leserbriefe im „Schwäbischen Tagblatt” beklagen die „steinzeitliche Lynchjustiz”. In der Tageszeitung „TAZ” wird geschrieben, dass ein Diebstahlversuch wohl nicht zum Tod geführt hätte, wäre Kiomars „nicht Ausländer gewesen”. 

1991 produziert der mit Kiomars befreundete Filmemacher Rahim Shirmahd den Dokumentarfilm „18 Minuten Zivilcourage” im Gedenken an den Fall. 

Trotz dieser kurzen Aufmerksamkeit gerät der Fall jedoch relativ schnell in Vergessenheit. Nur wenige Aktivist:innen versuchen das Gedenken aufrecht zu erhalten. 2021 bringt eine private Initiative eine Gedenktafel am Tatort an, die aber nach wenigen Tagen entfernt wird. 

Erst mehr als 35 Jahre nach der Tat, motiviert durch die Black-Lives-Matter-Bewegung, gerät der Fall von Kiomars wieder stärker in das Bewusstsein der Tübinger:innen und ein Arbeitskreis der Stadt wird eingerichtet, der sich mit dem Gedenken an Kiomars beschäftigen soll.  

Zum Weiterhören: 

WDR Podcast “Schwarz Rot Blut” Folge 1 Tod im Supermarkt – Tübingen 1987 https://www1.wdr.de/radio/cosmo/podcast/schwarzrotblut/schwarz-rot-blut-kiomars-javadi-100.html 

 Zum Weiterlesen: 

Petra Seitz, Bewährung für tödlichen Würgegriff, Taz am Sonnta, 9.12.1989 https://taz.de/!1788333/ 

Unvergessen: Der Tod von Kiomars Javadi auf epplehaus.de https://www.epplehaus.de/unvergessen-der-tod-von-kiomars-javadi/ 

Bildnachweis:

Das Titelbild zeigt das Tübinger Epplehaus, dass zum 30. Jahrestag des Vorfalls an die Tat erinnerte.