Als die Stadt München 1480 ein neues Rathaus baute, beauftragte sie Erasmus Grasser, einen der damals besten Bildhauer Bayerns, für den damals beträchtlichen Betrag von 150 Gulden, mit der Ausstattung des Festsaals.
Grasser fertigte hierfür unter anderem 10 Figuren von Tänzern in außergewöhnlichen Posen, deren Vorbilder aus der orientalischen Kultur stammen – den Morisken.
Als “Moriscos” wurden im heutigen Spanien Muslime bezeichnet, die nach der Eroberung muslimisch regierter Regionen durch christliche Herrscher, zum Christentum (zwangs-) konvertiert sind. Wie die “Conversos”, die christianisierten Juden, waren Moriscos auch nach ihrer Konversion nicht den “alt-christlichen” Bürgern gleichgestellt und waren beispielsweise von der Übernahme öffentlicher Ämter ausgeschlossen.
Um diese Ungleichbehandlung zu rechtfertigen, wurde 1449 in Toledo der Begriff “Limpieza de sangre” – “Reinheit des Blutes” erstmals in einem Statut offiziell verankert. Eines der ältesten Dokumente von staatlich verankertem Rassismus.
Moriscos waren daher eher am Rand der Gesellschaft. Nicht wenige von ihnen betätigten sich als “fahrendes Volk”, als Musiker, Gaukler und Tänzer, die durch ganz Europa zogen.
Ihr Tanzstil brachte viele neue Elemente nach Europa: Luftsprünge, gekreuzte Beine, isolierte Schulter- und Kopfbewegungen, gespreizte Finger und in alle Richtungen wirbelnde gebeugte oder gestreckte Arme waren eine Attraktion auf Jahrmärkten und beeinflussten unterschiedliche Volkstanzvarianten.
Dargeboten wurden die Moriskentänze meist in Form eines “Spiels”, bei dem die Rollen festgelegt waren, die Choreographie jedoch improvisiert wurde. Wie in einem Wettbewerb zeigten unterschiedliche Figuren, wie Bauer, Jüngling, Schneiderlein, Zauberer, Prophet, Mohr oder Orientale ihre Kunst und versuchten dabei die Gunst einer “schönen Maid” (“Preisrichterin”, “Glücksgöttin” oder “Maikönigin”) zu gewinnen.
Eine Art Tanzwettbewerb, wie ein “Battle” moderner Hiphop Gruppen, bei dem man versucht hat, sich durch möglichst originelle und schwierige Tanzfiguren zu übertreffen.
Die Beliebtheit dieses Tanzes beim einfachen Volk fällt in eine Zeit, in der die dominante christliche Kultur Tanz eher ablehnte. “Chorea est circulus rotundus, cuius centrum est diabolus”, der Tanz ist ein Kreis, in dessen Mitte der Teufel sitzt, schrieb schon der Kirchenvater Augustinus.
Trotz, oder vielleicht gerade wegen der zunehmenden Kontrolle exotischer, erotischer oder ekstatischer Ausdrucksformen im Tanz, wird der Moriskentanz (wegen seiner orientalischen Herkunft?) allgemein akzeptiert. Er füllt damit quasi eine Lücke, die verbotene heidnische Fruchtbarkeitsrituale oder Rituale von Jugendlichen oder Junggesellen auf Brautschau gelassen haben.
Ende des 15. Jahrhunderts sind es kaum noch echte Mauren oder “Mohren”, die den Tanz aufführen, sondern einheimische Städter oder Höflinge. In einer Ausstellung über “Tanz und Trance” 1997 in Antwerpen wird daher die Rolle des Moriskentanzes als frühe Ausdrucksform einer “Multi-Kulturellen-Praxis” gewürdigt. Diese Rolle scheint der Moriskentanz aber vor allem in der außerstädtischen Kultur und beim einfachen Volk gespielt zu haben.
Wie kommt die Stadt München nun aber auf die Idee, Tänzer einer “Randgruppe” in einem ihrer repräsentativsten Räume zu platzieren?
Der Ratssaal diente auch dem damaligen Herzog Albrecht IV. auch als Festsaal für höfische Feste. Dies gibt uns einen Hinweis, dass auch in der höfischen Tradition solche Tänze aufgeführt wurden.
Die obere Gesellschaftsschicht tanzt seinerzeit eigentlich im “sanften Reigen”. Es waren geordnete, formale Tänze, bei denen Bewegungen sehr kontrolliert wurden und bei denen Mann und Frau deutlich Distanz hielten.
Als “Zwischenspiel” wurden jedoch auch Moriskentänze aufgeführt, mit all ihrer Ausdruckskraft und erotischen Anspielungen. Dies geschah aber wohl eher im Sinne einer “ethnographischen Parodie”, also um sich über eine Tanzpraktik einer fremden Kultur lustig zu machen.
Interessanter Weise hat jedoch auch diese Art, sich vermeintlich der eigenen Überlegenheit zu vergewissern, einen Einfluss auf künstlerische Innovationen.
Eine moderne Parallele höfischer Morisken-Darstellung sind beispielsweise die sogenannten “Ministrel-Shows” in den USA des 19. Jahrhunderts. Auch dort parodieren weiße Musiker mit übertriebenen Kostümen und schwarzer Schminke (Blackfacing), die Musik afroamerikanischer Südstaaten-Sklaven. Aufführungen dieser Shows fanden selbst im Weißen Haus statt. Trotz ihrer rassistischen Form gelten diese Shows als wichtige Keimzelle des Jazz.
Durch die Beschäftigung mit dem Moriskentanz können wir zahlreiche Facetten einer Kulturbegegnung kennen lernen. Rassismus und Überheblichkeit, aber auch Kulturaustausch und gegenseitige Befruchtung.
Wir begegnen aber auch “Tanz” als menschlicher Konstante, die Kulturen nicht unterscheidet, sondern sogar verbinden kann und die in allen Epochen mit durchaus vergleichbaren Erscheinungsformen auftritt.
Der “orientalische Hiphop” des 15. Jahrhunderts wird heute noch gepflegt von der Tanzgruppe der Technischen Universität München.
Weiterlesen:
Homepage der “Münchner Moriskentänzer” – Tanzgruppe der Technischen Universität München http://www.morisken.vo.tu-muenchen.de/index.htm
Thomas Eser, Vom Morisk zum Putto? Verbildlichungen “heftiger Bewegtheit” und höfisch-bürgerliche Affektkontrolle im späten 15. Jahrhundert in: Lauterbach / Weidner (Hrsg): Die Münchner Moriskentänzer; Repräsentation und Performanz städtischen Selbstverständnisses, München 2013 S. 94-119
Melanie Wald-Fuhrmann, Ikonographisch-musikalische Repräsentationspolitik – Die Morisken-Tänzer am Goldenen Dachl https://pure.mpg.de/rest/items/item_3364377_3/component/file_3364378/content
Bildnachweis:
Moriskenstatue vor dem Alten Rathaus München
Public Licence by wiki commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:MUC_ARathaus_MoriskenT%C3%A4nzer.jpg