Die Gretchenfrage „Wie hast Du’s mit der Religion” wird von den Abgeordneten des Deutschen Bundestages jeweils zu Beginn der Legislaturperiode geheim abgefragt.
Fast die Hälfte der Abgeordneten machen in dieser Abfrage keine Angaben zu ihrer Religionszugehörigkeit. Bezieht man andere Quellen mit ein, äußert sich rund 1/3 der Abgeordneten nicht zu ihrer Religion.
Dies spricht dafür, dass ein großer Teil unserer Abgeordneten Religion als „Privatsache” versteht.
Bei der Beurteilung der Frage, inwieweit Muslim:innen im höchsten Parlament Deutschlands repräsentiert sind, sind wir daher auf Schätzungen angewiesen.
In der Statistik des Bundestages wird 1998 zum ersten Mal ein:e muslimische Abgeordnete ausgewiesen (0,1 % der Abgeordneten). Die Anzahl der Muslim:innen stieg in den folgenden Legislaturperioden auf 0,5% und schließlich im aktuellen 20. Bundestag auf 1%.
Bei der Frage, wie stark diese Zahl die in Deutschland lebenden Muslim:innen repräsentiert, müssen wir zunächst die Frage stellen, wie viele Muslim*innen in Deutschland insgesamt leben. Oder um ein Gutachten der Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus zu zitieren: „Wer ist Muslim und wenn ja wie viele?”.
Die letzte Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 2020 geht von 5,5 Mio. Muslim*innen in Deutschland aus, was einem Bevölkerungsanteil von 6,6% entspricht. Diese Schätzung beruht vor allem auf einer Erhebung des Anteils von Menschen mit „Migrationshintergrund” (wenn die Person selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt) aus mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern. 47% dieser Menschen haben einen deutschen Pass.
Diese Zahl sagt jedoch noch nichts über die wirkliche religiöse Zugehörigkeit dieser Menschen. Die „Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland” versucht eine genauere Einschätzung und gibt in Ihrer erweiterten Untersuchung 2021 lediglich 2,9 Mio. „konfessionsgebundene Muslime”, bzw. 3,5% der Bevölkerung an.
Wie sieht es nun im Bundestag aus? Die ersten Abgeordneten mit türkischem Migrationshintergrund Cem Özdemir und Leyla Onur zogen bereits 1994 in den Deutschen Bundestag ein. Angaben zur muslimischen Religionszugehörigkeit finden wir aber erst 1998.
Dies zeigt vielleicht schon, dass man von „Herkunft” nicht automatisch auf Religion schließen kann.
Im aktuellen Bundestag sitzen 39 Abgeordnete mit einem Migrationshintergrund aus einem mehrheitlich muslimischen Land. Hiervon geben 11 Abgeordnete auf Bundestag.de oder in anderen Quellen an, einer anderen Religion (chaldäisch-katholisch, römisch-katholisch, griechisch-orthodox, evangelisch, alevitisch) oder keiner Religion (konfessionslos oder Atheist) anzugehören.
Von den verbleibenden 28 (3,8%) Abgeordneten äußern sich 20 (71%) nicht auf bundestag.de zu ihrer Religion. Lediglich 8 Abgeordnete (7 Frauen und 1 Mann) bekennen sich dort zum Islam.
Dies sind: Sanae Abdi (SPD), Serap Güler (CDU), Lamya Kaddor (Grüne), Misbah Khan (Grüne), Amira Mohammed Ali (Linke), Omid Nouripour (Grüne), Aydan Özoguz (SPD) und Derya Türk-Nachbaur (SPD).
Nur eine Abgeordnete (Lamya Kaddor) ist Mitglied in einer muslimischen Organisation (Liberal-Islamischer Bund e.V.). Frauen mit muslimischer Kopfbedeckung sind nicht vertreten und auch kein Mitglied eines größeren muslimischen Verbandes.
Eine eventuell mangelnde Repräsentanz im Bundestag ist jedoch nicht nur auf Muslim:innen beschränkt. Derzeit bekennt sich beispielsweise kein Abgeordneter zum Judentum, zumindest öffentlich nicht.
Nur 83 Abgeordnete (11,3% aller Abgeordneten) haben einen Migrationshintergrund, während 26% der Gesamtbevölkerung einen Migrationshintergrund haben.
Es ist ein Phänomen der Demokratie, dass es Angehörige von Minderheiten eher schwerer haben, Mehrheiten für sich zu gewinnen. Daher ist es umso ermutigender, wenn der Deutsche Bundestag immer mehr der Pluralität der Gesellschaft entspricht.
Die wachsende Vielfalt im Bundestag sollte daher auch Muslim:innen ermutigen, sich noch stärker in unsere Gesellschaft einzubringen. Nicht zuletzt belegt auch ihre Repräsentanz im Bundestag, dass Muslim:innen Teil unserer Gesellschaft sind.
Zum Weiterlesen
Katrin Pfündel / Anja Stichs / Kerstin Tanis, Muslimisches Leben in Deutschland 2020 – Studie im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz Forschungsbericht 38, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2021
Mediendienst Integration, Abgeordnete mit Migrationshintergrund im 20. Deutschen Bundestag, Oktober 2021
https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Recherche_Bundestag_2021_Mediendienst.pdf
Kürschners Volkshandbuch: Deutscher Bundestag (20. WP)
https://www.btg-bestellservice.de/pdf/10037700.pdf
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