Skip to content

1816: Goethe der Muselmann

„Der Dichter… lehnt den Verdacht nicht ab, daß er selbst ein Muselmann sei“, schreibt Goethe am 24. Februar 1816. Kann es sein, dass einer der bekanntesten Dichter Deutschlands zum Islam konvertiert ist? Es gibt manche Muslime, die diese Frage eindeutig bejahen, so bereits 1926 der Chefredakteur der Moslemischen Revue Hamid Marcus oder ein Rechtsgutachten Weimarer Muslime im Jahr 1995.  

Die Nähe von Goethe zum Islam wurde in der Literaturwissenschaft lange vernachlässigt. Erst der Germanistin Katharina Mommsen ist es zu verdanken, dass dieser Aspekt seit den 1980er Jahren auch wissenschaftlich beachtet wird. 

In der Tat hat sich Goethe bereits in jungen Jahren mit dem Islam auseinandergesetzt, war von Mohammed und dem Koran fasziniert. Seine Dichtung und sein Denken wurden auf vielfältige Weise von der vermeintlich fremden Religion bestimmt.  

Auch in seinem Hauptwerk „Faust“ finden sich muslimische Spuren. Bei der sprichwörtlichen Gretchenfrage “Wie hast du’s mit der Religion?”, gibt Faust eine Antwort, die auch ein Muslim geben könnte. Auch im Prolog des „Faust” finden sich Zitate aus dem Koran. 

Am offensichtlichsten setzt sich Goethe mit dem Orient in seinem Alterswerk “West-Östlicher Divan”, das 1819 erschien, auseinander. 

Hier begibt sich Goethe auf eine „Hegira” – er wandert im Geiste aus und begibt sich in den imaginären Orient. Sein Motto ist:  

Wer das Dichten will verstehen,  
Muss ins Land der Dichtung gehen,  
Wer den Dichter will verstehen,  
Muss in Dichters Lande gehen.” 

Stichwort: Goethes Hegira bezieht sich auf das arabische Wort Hidschra. Die Hidschra des Propheten Mohammed war seine Auswanderung aus Mekka nach Medina und markiert den Beginn er muslimischen Zeitrechnung. Wörtlich bedeutet Hidschra Migration.  

Im West-Östlichen Divan tritt Goethe in einen Dialog mit dem persischen Dichter Hafis ein. Die Gedichte von Hafis hatte 1812 der österreichische Orientalist Josef von Hammer-Purgstall ins Deutsche übersetzt. 

Im West-Östlichen Divan bezeichnet Goethe aus muslimischer Perspektive den Koran als „Buch der Bücher” und schreibt zu Jesus „Wer ihn selbst zum Gotte machte, kränkte seinen heil’gen Willen”. In seiner kritischen Haltung zur christlichen Kirche fühlt er sich verwandt mit dem persischen Dichter, der ebenfalls von der Orthodoxie angegriffen wird. Er bescheinigt ihm  

Du aber bist mystisch rein,  
Weil sie dich nicht verstehn,  
Der du, ohne fromm zu sein, selig bist!  
Das wollen sie Dir nicht zugestehn.” 

Goethes Verständnis vom Islam ist universell. Er stellt fest: 

“Wenn Islam Gott ergeben heißt,  
In Islam leben und sterben wir alle.» 

Ein weiteres bekanntes Zitat aus dem Divan lautet:  

“Gottes ist der Orient! 
Gottes ist der Okzident! 
Nord- und südliches Gelände  
Ruht im Frieden seiner Hände. 
 
Er, der einzige Gerechte, 
Will für jedermann das Rechte.  
Sei von seinen hundert Namen  
Dieser hochgelobet! Amen.” 

Der West-Östliche Divan ist nicht einfach zu verstehen. Daher hat Goethe selbst einen Anhang verfasst, in dem er Hintergründe zu seinen Gedichten erläutert. 

In den „Noten und Abhandlungen” schreibt er über den Koran: „So wird doch dieses Buch für ewige Zeiten höchst wirksam verbleiben, indem es durchaus praktisch und den Bedürfnissen einer Nation gemäß verfaßt worden, welche ihren Ruhm auf alte Überlieferungen gründet und an herkömmlichen Sitten festhält.” 

Im Divan und seinen „Noten und Abhandlungen” erkennen wir ein großes Wissen, eine intensive Beschäftigung mit dem Orient und eine sehr vorurteilsfreie Herangehensweise.  

In Briefen und persönlichen Aussagen geht er aber noch weiter als im Divan. So schreibt er in einem Brief: «In keiner Sprache ist vielleicht Geist, Wort und Schrift so uranfänglich zusammengekörpert.» 

Einige Jahre später berichtet sein Freund Eckermann über eine Unterhaltung mit Goethe (11. April 1827), in der der Dichter den Islam als Richtschnur akzeptierte. Goethe schloss eine Diskussion mit den Worten: „Sie sehen, daß dieser Lehre nichts fehlt und daß wir mit allen unsern Systemen nicht weiter sind und daß überhaupt niemand weiter gelangen kann. … Jenes philosophische System der Mohammedaner ist ein artiger Maßstab, den man an sich und an andere anlegen kann, um zu erfahren, auf welcher Stufe geistiger Tugend man denn eigentlich stehe.“ 

Auch mit der Religionsausübung beschäftigt er sich. Im Januar 1814 nimmt er an einem Freitagsgebet teil, das Baschkirische Soldaten im Protestantischen Gymnasium in Weimar durchführen. 

Im Brief an Trebra vom 5. Januar 1814 schreibt er: „Wir haben der baschkirischen Andacht beygewohnt, ihren Mulla geschaut, und ihren Prinzen im Theater bewillkommt. Aus besonderer Gunst hat man mir Bogen und Pfeile verehrt, die ich, zu ewigem Andenken, über meinen Kamin, aufhängen werde, sobald Gott diesen lieben Gästen eine glückliche Rückkehr bestimmt hat.“ 

Goethe scheint nicht der einzige Gast dieses Freitagsgebetes gewesen zu sein. So schreibt er im Anschluss an das Freitagsgebet an seinen Sohn August (am 17. Januar 1814): 

„Mehrere unserer religiosen Damen haben sich die Übersetzung des Corans von der Bibliothek erbeten.“  

Er scheint auch selbst muslimische Feste gefeiert zu haben. 1819 schreibt er (Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan), dass er vorhat, “ehrfurchtsvoll jene heilige Nacht [zu] feiern, wo der Koran vollständig dem Propheten von obenher gebracht ward”. 

Stichwort: Mit “Heilige Nacht” meint Goethe die Laylat ul-Qadr, in einer Nacht in den letzten 10 Tagen des Monat Ramadan feiern Muslime die Offenbarung des Koran. 

In einem Briefwechsel mit seinem Freund Willemer schreibt er am 22. Dezember 1820 sogar: „Es ist ein Islam, zu dem wir uns früher oder später alle bekennen müssen.“ (WA IV, 34, 50) 

Er schreibt allerdings „ein Islam”, nicht „der Islam”. Es geht ihm also nicht um eine Art von Religion, sondern um ein umfassendes Verständnis von Religion.  

Vorurteilsfrei erkennt er die Universalität der Botschaft des Koran. Der Islam ist für ihn nicht fremd, sondern Inspiration und Bereicherung seiner philosophischen Gedanken.  

In seiner Offenheit ist Goethe seiner Zeit weit voraus. Der „West-Östliche Divan” galt vor 200 Jahren als schwer verkäuflich, vielleicht ist jetzt mehr als 200 Jahre nach seinem Erscheinen die Zeit reif für ein tieferes Verständnis der Gemeinsamkeiten von Orient und Okzident. Denn:  

Wer sich selbst und andre kennt 
Wird auch hier erkennen: 
Orient und Occident 
Sind nicht mehr zu trennen”. 

Dies wusste Goethe bereits vor 200 Jahren zu sagen. 

 Zum Weiterhören: 

Unser Podcast: Goethe als Vorbild für deutsche Muslime https://anchor.fm/smf-verband/episodes/Goethe-als-Vorbild-fr-deutsche-Muslime-e1ga31t 

Irene Dänzer-Vanotti,  200 Jahre „West-östlicher Divan“ Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident,  25.12.2019 https://www.deutschlandfunk.de/200-jahre-west-oestlicher-divan-gottes-ist-der-orient-100.html 

Zum Weiterlesen: 

Katharina Mommsen, Goethe und der Islam, Frankfurt am Main 2001 

Katharina Mommsen, Goethe und die arabische Welt, Frankfurt am Main 1988 

Goethes Werke – Weimarer Ausgabe (WA), Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abtlg. I–IV. 133 Bände in 143 Teilen. H. Böhlau, Weimar 1887–1919 

Schaikh ‘Abdulqadir Al-Murabit, Goethe -Fatwa, Weimar 1995 

http://www.enfal.de/gote-fat.htm 

Michael Hoffmann, Goethe und der Islam, in: Islam in der deutschen und türkischen Literatur S. 47-59, Paderborn, 2012 

Karl Joseph Kuschel, Goethe und der Koran, Ostfildern, 2021 

 Bildnachweis: 

Goethe-Hafiz Denkmal in Weimar. Foto: Michael Pfaff