Skip to content

1906: Maria Sarre – Gastgeberin eines deutsch-osmanischen Netzwerks

Anfang des 20. Jahrhunderts werden die Kontakte zwischen dem Deutschen Reich und dem Osmanischen Reich intensiviert. Ein „Hotspot” bei dem sich hochrangige Politiker, Wissenschaftler, Journalisten und Vertreter der Wirtschaft aus beiden Ländern regelmäßig informell treffen, ist die „Villa Sarre” in Potsdam Babelsberg. 

Die mit Motiven aus dem Orient verzierte Turmvilla wurde für den Direktor der islamischen Abteilung des Kaiser-Friedrich-Museums Friedrich Sarre erbaut. 

Gastgeberin dieses Hauses ist Sarres Ehefrau Maria. An ihrem Leben an der Schnittstelle zwischen den Kulturen lässt sich viel über die damalige Zeit lernen. 

Maria Sarre wird 1875 als Tochter des Ingenieurs und Archäologen Carl Humann in Smyrna (heutiges Izmir) geboren. Carl Humann ist durch die Ausgrabungen in Bergama und die Entdeckung des Pergamonaltars bekannt geworden. Sein Haus in Izmir war eines der Zentren des gesellschaftlichen Lebens der europäischen Community. 

Nahezu jeder deutsche Wissenschaftler, der das Osmanische Reich bereiste, war Gast in seinem Haus. Legendär waren auch seine Weihnachtsfeiern, zu dem alle in Smyrna lebenden Deutschen eingeladen waren. Selbst der deutsche Botschafter aus Istanbul wohnte in Smyrna weder in einem Hotel noch beim deutschen Konsul, sondern bei Humanns. Humann war bestens vernetzt auch zur Elite des Osmanischen Reiches.  

In diesem multikulturellen Schmelztiegel wächst Maria auf. Sie spricht besser Französisch als Deutsch, außerdem fließend Neu-Griechisch und Englisch.  

Sie verbringt den Großteil ihrer ersten 20 Jahre in Smyrna und begleitet ihren Vater auf Reisen nach Istanbul. 

Nach dem Tod des Vaters kehrt sie mit ihrer Mutter nach Deutschland zurück und heiratet 1900 den Archäologen und Sammler Friedrich Sarre, den sie schon 5 Jahre zuvor in Smyrna kennengelernt hatte. 

Nach dem Einzug in die neuerbaute „Villa Sarre” 1906 nimmt sie die Tradition ihrer Eltern als „Gastgeberin” auf und veranstaltet regelmäßig Feiern in ihrem Haus.  

Die „Gästeliste” liest sich wie ein „Who is Who” der „Orientinteressierten”: Der „Architekt” der deutschen Orientpolitik Max von Oppenheim, der Journalist und Vorstandsmitglied der „Deutsch-Türkischen Vereinigung” Ernst Jäkh, die Direktoren von Deutscher Bank und Dresdner Bank, Außenminister Walter Rathenau und der spätere Reichskanzler Franz von Papen sind nur einige Beispiele. 

1908 ist auch der Militärattaché der Osmanischen Botschaft Enver Pascha zu Gast. Mit Ihm, dem späteren Kriegsminister des Osmanischen Reiches, beginnt eine enge Freundschaft der Familie.  

Enver ist drei Jahre in Berlin, bezieht eine Wohnung in der Nähe der Familie und die Brücke, die er auf seinem Fußweg zu den Sarres regelmäßig passiert, trägt bis heute seinen Namen. 

1911 kämpft Enver im türkisch-italienischen Krieg in Libyen. Er schreibt Maria zahlreiche Briefe aus seinem Kriegseinsatz. Diese Briefe sind so persönlich, dass sie später gekürzt und redigiert werden müssen, als man aus diesen Briefen ein Buch über den Libyen-Krieg macht. 

1914 wird Enver nach einem Putsch Kriegsminister und unterstützt den Kriegseintritt des Osmanischen Reiches an der Seite des Deutschen Reiches in den Ersten Weltkrieg. 

Maria unterstützt während des Krieges Envers Familie. Einzelne Familienmitglieder gastieren in der Villa Sarre und Maria organisiert Ausbildungsplätze, aber auch medizinische Operationen für Envers Familienangehörige. Gleichzeitig nutzt sie ihre guten Kontakte zur deutschen Presse, um für ein positives Bild von Enver in der deutschen Öffentlichkeit zu sorgen. 

Neben Maria ist es aber auch ihr Bruder Hans Humann, der eng mit Enver befreundet ist und als Marine Attaché an der Botschaft in Istanbul noch mehr Einblicke in Kriegsgeschehen und Politik erhält. 

Nach der Niederlage im ersten Weltkrieg flüchtet Enver mit seiner Familie nach Berlin und wohnt über zwei Jahre in der Villa Sarre. 

Nach dem Krieg versuchen die Sarres noch in der „Deutsch-Türkischen Vereinigung” die Beziehungen zur Türkei aufrecht zu erhalten. Die DTV verliert in Deutschland aber immer mehr an Bedeutung und löst sich Ende der zwanziger Jahre auf. Auch in der Türkei wird die Familie Sarre aufgrund ihrer „Verwicklung” in die Politik vor und während des Krieges zunehmend kritisiert. 

Im aufkommenden Nationalsozialismus gerät die Familie weiter ins Abseits. Drei ihrer vier Kinder schließen sich dem Widerstand an. Ihre älteste Tochter, die Bildhauerin Marie-Louise Sarre, wird sogar verhaftet und im Konzentrationslager Ravensbrück inhaftiert. Dort kümmert sie sich liebevoll um ihre Mitgefangenen und erhält den Spitznamen „Blonder Engel von Ravensbrück”. 

Nach dem Krieg und dem Tod ihres Mannes 1945 zieht Maria mit Maria-Louise zu ihrer anderen Tochter Irene nach Ascona in der Schweiz. In der Künstlerkolonie um den “Monte Verita” lebt sie bis zu ihrem Tod 1970. 

Über die Männer, denen Maria begegnet ist, gibt es zahlreiche Quellen. Über sie, die „Frau im Hintergrund”, wurde bisher wenig geschrieben. Ihre Herkunft aus der „Levante”, dem östlichen Mittelmeer, verweist aber auch auf andere Levantiner. Nach dem verlorenen ersten Weltkrieg mussten tausende Deutsche das Osmanische Reich verlassen.  

Moment mal! Welche Liste Prominente mit Levantinischer Herkunft kennst Du? Paul Anka, Cher, Charles Aznavour, Shakira, Selma Hayek, Tony Shalhoub (Monk), Melina Mercourie, Peter Ustinov, Nicolas Sarkozy, Carlos Menem, Boutros Boutros-Ghali, Ralph Nader, Eric Hobsbawn, Edward Said 

Welchen Einfluss diese kosmopolitischen Deutschen nach ihrer Rückkehr auf die Deutsche Gesellschaft hatten, wäre ein interessanter Forschungsgegenstand. Im Falle von Maria wurde ihre Weltgewandtheit, ihr Talent als Brückenbauerin und ihr organisatorisches Talent bisher weit unterschätzt. 

Zum Weiterlesen 

Malte Fuhrmann, Friedrich Sarre, der zeitgenössische Orient und der erste Weltkrieg 2015, in: Wie die islamische Kunst nach Berlin kam. Der Sammler und Museumsdirektor Friedrich Sarre, Julia Gonnella, Jens Kröger (Hg.), Berlin: Reimer 2015, 47-59. https://www.academia.edu/38423429/Friedrich_Sarre_der_zeitgen%C3%B6ssische_Orient_und_der_Weltkrieg 

Malte Fuhrmann, Der Traum vom deutschen Orient Zwei deutsche Kolonien im Osmanischen Reich 1851-1918, 2006. https://www.academia.edu/38386590/TraumvomOrient_pdf 

Jürgen Gottschlich, Beihilfe zum Völkermord: Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier, Berlin 2015  https://books.google.ch/books?id=bx6GBwAAQBAJ&pg=PA61&lpg=PA61&dq=von+babelsberg+nach+freiburg+sarre&source=bl&ots=68mvvtjblb&sig=ACfU3U3pW5pavgXKzt1r0hjo9lGkunGImw&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwjDtea22-D9AhVCh_0HHZdjDWo4ChDoAXoECBsQAw#v=onepage&q=von%20babelsberg%20nach%20freiburg%20sarre&f=false 

Bildnachweis 

Detail der Villa Sarre 

GNU Free Documation License by Wiki Commons 

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Spitzweggasse_6,_das_L%C3%B6wenfries;_2008.jpg