Ab dem 18. Jahrhundert findet man zahlreiche Bauwerke im Gebiet des heutigen Deutschlands, die im orientalischen Stil gebaut wurden.
Die frühesten Spuren orientalisierender Architektur findet man jedoch wesentlich früher. Sie stehen im Zusammenhang mit den Kreuzzügen und der Erinnerung an das Heilige Land und finden sich auf den Spitzen von Kirchtürmen in Rheinhessen.
Die Turmbekrönungen wirken wie ein eigenes Gebäude, das auf den Turm gesetzt wurde.
Alle haben eine zentrale Kuppel und erinnern mehr an fatimidische Bauwerke als an im Mittelalter übliche Turmspitzen. Es sind eindeutig Zitate fremder Architektur.
Während viele Jahre spekuliert wurde, aus welcher Zeit diese Türme stammen könnten und welchen Bezug sie haben, erlaubt die jüngere Forschung (2003) genauere Daten. Dendrochronologische Untersuchungen, also Untersuchungen der Jahresringe des verwendeten Holzes, erlauben die Datierung zwischen 1100 und 1110.
Im Einzelnen handelt es sich um folgende Kirchen: St. Victor in Guntersblum (Turmspitze erbaut 1102), St. Paul in Worms (Turmspitze erbaut 1105 –1108), die Allerheiligenkirche in Dittelsheim (Turmspitze erbaut 1110) und die St. Bonifazius Kirche in Alsheim (ohne zeitliche Datierung).
Die Türme können daher direkt in Beziehung zum ersten Kreuzzug (1095 – 1099) gesetzt werden.
Sie sollen an die Eroberung Jerusalems erinnern und an die Notwendigkeit, sich auch nach Rückkehr der meisten Kreuzfahrer durch Spenden oder persönlichen Einsatz um den Schutz Jerusalems zu kümmern.
Das vermeintliche Vorbild dieser Türme ist die 1036 wieder aufgerichtete Grabeskirche Jesu in Jerusalem. Diese Kirche wich später Erweiterungsbauten, so dass wir über das genaue Aussehen der Kirche wenig wissen. Nach alten Reisebeschreibungen lässt sich jedoch annehmen, dass die Grabeskirche eine dreigeschossig wirkende Kreuzkuppelkirche war, bei der sich vier gleich lange satteldachgedeckte Arme um ein von einer achtteiligen Kuppel bekröntes Mittelquadrat anordnen.
Die Turmspitzen in Rheinhessen entsprechen diesen Beschreibungen und könnten die letzten authentischen Darstellungen der originalen Grabeskirche sein.
Dieser Baustil entsprach fatimidisch-muslimischer Architektur, die auch von orientalischen Christen übernommen wurde.
Während der erste Kreuzzug noch die gesamte Bevölkerung elektrisierte, wurden spätere Kreuzzüge von Fürsten und ihren Heeren dominiert. Die religiös motivierte Massenbewegung schwächte sich ab und wich politischen Interessen und Profitstreben. Dies mag ein Grund sein, warum die Türme in Rheinhessen lange die einzigen Zitate aus dem Orient blieben.
Zum Weiterlesen:
Hans-Jürgen Kotzur, Die rheinhessischen „Heidentürme“, 2003 in: www.regionalgeschichte.net,
URN: urn:nbn:de:0291-rzd-012347-20202012-2
Bildnachweis:
Foto Michael Pfaff
Stichworte/Glossar:
Kreuzzüge
Als Kreuzzüge werden die von der römisch-katholischen Kirche gebilligten Feldzüge gegen muslimische Staaten im Nahen Osten bezeichnet. Die strategisch. religiös und wirtschaftlich motivierten Kriege dauerten von 1095 bis ins 13. Jahrhundert.